Forschen am lebenden Fossil
Max-Planck-Forscher erkunden grundlegende Prinzipien adaptiver Immunität von Wirbeltieren
Die adaptive Immunität ist ein äußerst effektiver Verteidigungsmechanismus bei Wirbeltieren. Ein fein abgestimmtes Zusammenspiel verschiedener Zelltypen sorgt für eine Immunantwort, die spezifisch Erreger, wie z. B. Bakterien und Viren, beseitigt. Mithilfe spezieller Rezeptoren auf den Immunzellen können die Erreger erkannt und anschließend vernichtet werden. Freiburger Max-Planck-Forschern ist es nun erstmals gelungen, in Neunaugen die mechanistische Grundlage zu beschreiben, mit der die verschiedenen Rezeptor-Gene in diesen urzeitlichen Kreaturen zusammengesetzt werden, um den Rezeptor auf der Zelloberfläche der Immunzellen auszubilden. Die Ergebnisse der Forscher vom MPI für Immunbiologie und Epigenetik sind ein wichtiger Schritt zur Beantwortung der Frage, welche der vielen Funktionen des Immunsystems heute lebender Wirbeltiere unbedingt notwendig sind. Mit diesem evolutionär fundierten Forschungsansatz wollen die Freiburger Wissenschaftler Ursachen und Folgen von versagenden Immunfunktionen und Autoimmunsyndromen besser verstehen.
Seit Beginn des Lebens befinden sich Krankheitserreger wie Viren und Bakterien im Krieg mit den Wirtsorganismen, die sie befallen. Es gibt ein regelrechtes Wettrüsten zwischen dem Immunsystem der Wirtsorganismen und den infektiösen Krankheitserregern, das sogar als ein entscheidender Motor der Evolution gilt. Alle Wirbeltiere und so auch der Mensch haben ein sehr ausgeklügeltes Selbstschutzsystem entwickelt, das als adaptives Immunsystem bezeichnet wird. Spezialisierte Immunzellen, T-Zellen und B-Zellen genannt, erkennen und zerstören dabei eindringende Krankheitserreger. Eines der Hauptmerkmale und gleichzeitig eine Art Geheimwaffe adaptiver Immunität ist das immunologische Gedächtnis. Die Abwehrzellen erinnern sich an Infektionen, was bei einer erneuter Infektion zu einer noch effizienteren Reaktion auf denselben Erreger führt.
Auf der Suche nach den Konstruktionsprinzipen der adaptiven
Immunität Erstaunlicherweise hat sich die adaptive Immunität in der frühe Phase der Wirbeltierevolution mindestens zweimal unabhängig voneinander entwickelt. Wirbeltiere werden bekanntlich in zwei Gruppen unterteilt. Die Tiere der zahlenmäßig größeren Gruppe besitzen alle einen Kiefer und werden daher Kiefermäuler genannt. Sie umfassen so unterschiedliche Lebewesen wie Haie und Menschen. Im Gegensatz dazu hat eine kleine Gruppe von Wirbeltieren keinen Kiefer. Diese kieferlosen Wirbeltiere werden als Rundmäuler bezeichnet werden. Neunaugen und Schleimaale gehören zu dieser Gruppe.
„Auch wenn sich diese beiden Gruppen von Wirbeltieren über mehr als 500 Millionen Jahre unabhängig voneinander entwickelt haben, ist der grundlegende Aufbau ihres adaptiven Immunsystems überraschend ähnlich”, erklärt Thomas Boehm, Direktor am Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik. Die Forscher wissen, dass alle Wirbeltiere die für adaptive Immunität so wichtigen T- und B-Zellen gemeinsam haben. Diese Zellen sind mit speziellen Rezeptoren ausgestattet, durch die sie in der Lage sind, fremde Strukturen zu erkennen, die als Antigene bezeichnet werden. Da das Immunsystem zwischen sehr unterschiedlichen Arten von Antigenen unterscheiden muss, variieren auch die Strukturen der Rezeptoren. Deswegen bestehen sie aus ähnlichen, aber nicht identischen Bausteinen, die bei der Entwicklung von T- und B-Zellen zufällig kombiniert werden.
Sezieren der adaptiven Immunität mit der Genschere
Eine der großen Überraschungen neuerer Forschung war, dass die Bausteine der Antigenrezeptoren von Kiefer- und Rundmäulern strukturell unterschiedlich sind, jedoch bei der Immunabwehr den gleichen Zweck erfüllen. „Neunaugen verwenden kurze Peptide, so genannte Leuzin-Repeats, und ordnen diese wie Perlen auf einer Perlenkette an, um so die variablen Rezeptoren der Immunzellen zu bilden. Bisher war jedoch unklar, wie diese Molekülketten zusammengefügt werden“, erklärt Ryo Morimoto, Erstautor der Studie. Diese wichtige Frage haben die Freiburger Max-Planck-Forscher nun in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern vom französischen Institut national de la recherche agronomique (INRA) in Rennes beantwortet.
Dazu ist es den Wissenschaftlern erstmals gelungen, mit der berühmten Genschere CRISPR/Cas9 Genfunktionen im Immunsystem von Neunaugen zu untersuchen. Mit Hilfe der Genschere setzten sie gezielt ein Gen in Neunaugen außer Kraft, von dem sie lange vermuteten, dass es für den Zusammenbau einer bestimmten Klasse von variablen Lymphozytrezeptor-Genen erforderlich ist, die den Bauplan von Neunaugen-Antikörpern enthalten. Nachdem die Forscher das so genannte Cytidin-Deaminase-Gen 2 (CDA2) ausschalteten, konnten die Neunaugen in der Tat keine Antikörper mehr produzieren.
Gemeinsamer Werkzeugkasten zur Herstellung von Antikörpern
Das CDA2-Gen ist für Immunologen von großem Interesse, da es mit dem AID-Gen bei Kiefermäulern verwandt ist und in dieser Gruppe von Wirbeltieren hilft, die Spezifität der Antikörper zu verfeinern. „Es scheint so, dass die Natur Moleküle aus einem gemeinsamen Werkzeugkasten ausgewählt hat, um die Bildung nützlicher Antikörper bei beiden Gruppen von Wirbeltieren zu ermöglichen. Unsere Ergebnisse sind ein wichtiger Schritt für das Verständnis der Entwicklung und Funktion des Immunsystems von Wirbeltieren insgesamt“, sagt Thomas Boehm.
Nachdem die Wissenschaftler in dieser Studie erstmals die Funktion von Immungenen bei Neunaugen erfolgreich mit der Genschere untersucht haben, wollen sie nun die Rolle vieler weiterer Gene testen, die vermutlich die Immunfunktionen der Neunaugen bestimmen. Dadurch hoffen sie, die Schlüsselkomponenten des Immunsystems urzeitlicher Wirbeltiere zu rekonstruieren und so zu verstehen, welche der vielen Funktionen, die vom Immunsystem heute lebender Wirbeltiere ausgeführt werden, absolut notwendig sind und auf welche eventuell verzichtet werden kann. Mit diesem alternativen Blick auf das Immunsystem wollen die Max-Planck-Forscher zur Entwicklung von Therapieansätzen für solche Patienten beitragen, bei denen der Immunschutz versagt und zu Autoimmunerkrankungen und Krebserkrankungen führt.
MR