Epigenetik: Wie männliche Fruchtfliegen ihr fehlendes X-Chromosom kompensieren
Forschungsbericht (importiert) 2012 - Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik
Einleitung
Epigenetische Mechanismen sind von fundamentaler Bedeutung in vielen zellulären und physiologischen Vorgängen. Sie beeinflussen, welche Gene in einer Zelle wie stark ausgelesen werden. Dadurch übernehmen sie sowohl bei der Differenzierung in unterschiedliche Zelltypen als auch bei der Anpassung an Umwelteinflüsse eine wesentliche Rolle. Diese Regulation lässt sich besonders gut an X-Chromosomen untersuchen, welche in Männchen und Weibchen vieler Arten unterschiedlich häufig vorliegen. Erkenntnisse über epigenetische Einflüsse sind relevant für die Diagnose und Therapie verschiedener Krankheiten, wie zum Beispiel Krebs oder Diabetes.
Dosiskompensierung bei Fruchtfliegenmännchen
Das Geschlecht vieler Organismen wird durch die Anzahl der X-Chromosomen festgelegt. Beim Menschen besitzen Frauen zwei X-Chromosomen, während Männer nur ein X-Chromosom und zusätzlich ein Y-Chromosom haben. Gleiches gilt für andere Säugetiere, aber auch für Drosophila melanogaster, die „schwarzbäuchige Taufliege“, oft auch als Fruchtfliege bezeichnet.
Da hierdurch ein Ungleichgewicht in der Anzahl der Geschlechtschromosomen zwischen den beiden Geschlechtern entsteht, haben die meisten Organismen eine Strategie entwickelt, um sicherzustellen, dass notwendige Gene auf dem X-Chromosom jeweils in gleicher Menge abgelesen werden. Diesen Prozess bezeichnet man als Dosiskompensierung. Während der Ausgleich bei Säugetieren über die Inaktivierung eines der beiden X-Chromosomen im Weibchen erfolgt, werden bei Fruchtfliegen die auf den X-Chromosomen liegenden Gene der Männchen doppelt so stark ausgeprägt. Dies erfolgt mit Hilfe des Dosiskompensierungskomplexes, welcher den Verpackungsgrad des männlichen X-Chromosoms verringert und dieses so besonders gut für Proteine zugänglich macht, die für das Ablesen von Genen – die Transkription – verantwortlich sind. Wie im Einzelnen diese Veränderung der Chromatinstruktur die Ausprägung X-chromosomaler Gene erleichtert, war bisher nur unzureichend erforscht.
Asifa Akhtar und ihre Kollegen vom Max-Planck-Institut für Immunobiologie und Epigenetik in Freiburg haben nun erstmals nachgewiesen, dass bei Fruchtfliegenmännchen die Initiationsphase der Transkription angeregt wird, um den Mangel an einem zweiten X-Chromosoms auszugleichen. Die Transkription beginnt damit, dass das Enzym RNA-Polymerase am Promotor, einer Region kurz vor einem Gen, an den DNA-Strang bindet und so die Geninformation abliest und sie in mRNA umschreibt. Die Forscher zeigten, dass es für die Verdopplung entscheidend ist, wieviel RNA-Polymerase auf die Promotoren des männlichen X-Chromosoms geladen wird. Je mehr RNA-Polymerase an den Promotor bindet, desto höher ist die Frequenz der Transkription. Der entscheidende Schritt findet also schon in der sogenannten Initiationsphase statt und nicht, wie bisher vermutet, während der eigentlichen Abschreibphase selbst. [1]
Damit wiesen die Forscher erstmals nach, weshalb Gene auf dem X-Chromosom in männlichen Fruchtfliegen stärker abgelesen werden als in weiblichen, und erhielten somit Einblick in das fundamentale Zusammenspiel von DNA-Struktur und Genausprägung. In weiteren Arbeiten hierzu wollen die Forscher nun herausfinden, wie dieses Beladen des Promotors mit RNA-Polymerase im Einzelnen vor sich geht und wie das zur Verdopplung der Genprodukte des männlichen X-Chromosoms führt.
Proteinpaarung für das Überleben von Fruchtfliegen
Weibliche Fruchtfliegen besitzen zwei X-Chromosomen, männliche Fruchtfliegen dagegen ein X- und ein Y-Chromosom. Wissenschaftler des Akhtar-Labors vom Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik haben in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern des European Molecular Biology Laboratory (EMBL) im französischen Grenoble herausgefunden, dass zwei Exemplare eines besonderen Proteins – MSL1 genannt – sich verbinden müssen, um diesen Unterschied auszugleichen.
Um das fehlende X-Chromosom zu kompensieren, müssen die Gene auf diesem Chromosom der männlichen Fruchtfliege doppelt so oft abgelesen werden. Diese erhöhte Leistung wird durch eine Gruppe von Proteinen ausgelöst, die sich zu dem sogenannten MSL-Komplex zusammenfügen (Abb. 1). Bisher wussten Wissenschaftler nicht genau, wie der MSL-Komplex das X-Chromosom erkennt. Die Gruppe um Asifa Akhtar vom Freiburger MPI und Jan Kadlec vom EMBL in Grenoble haben nun einen Schlüsselvorgang in diesem Prozess identifiziert. [2]
Jan Kadlec ermittelte die dreidimensionale Struktur der beiden MSL-Proteine MSL1 und MSL2 und fand heraus, dass sich zwei Exemplare des MSL1-Proteins aneinanderkoppeln; dieses Proteinzwillingspaar dient dann als Andockstelle für zwei Exemplare des MSL2-Proteins. Dies bedeutet, dass wahrscheinlich alle Kernproteine im MSL-Komplex in Paaren auftreten, was den Komplex insgesamt doppelt so groß macht wie bisher angenommen. Akhtars Gruppe entdeckte, dass der MSL-Komplex sich nur genau zusammenfügt, wenn die MSL1-Proteine Paare bilden können. Damit aber dieser Proteinkomplex das X-Chromosom erkennen und entsprechend die Dosiskompensierung einleiten kann, muss auch das MSL2-Protein vorhanden sein. Durch diese neu gewonnene Kenntnis der Struktur wird es nun möglich sein, die Funktionen der verschiedenen Untereinheiten genauer zu untersuchen.
Die Wissenschaftler haben bereits andere Teile des MSL-Komplexes auf diese Weise erforscht. Sie hoffen, diesen Ansatz erweitern zu können, um ein komplettes Bild darüber zu erhalten, wie der MSL-Komplex diese lebensnotwendige Rolle für die Fruchtfliegenmännchen erfüllt.