Valérie Hilgers

„… es ist völlig okay, Fehler zu machen.“

Women in science: Valérie Hilgers hat zwei ERC-Grants erhalten und ist Forschungsgruppenleiterin am MPI-IE in Freiburg. Ihr Labor erforscht, wie die enorme Komplexität innerhalb von Neuronen nicht im Chaos endet, sondern sich in spezialisierte Funktionen übersetzt. In diesem Interview spricht sie über den idealen Zeitpunkt, um in der Wissenschaft Kinder zu bekommen, und erklärt, warum es in Ordnung ist, gelegentlich Fehler zu machen.

Woran forschen Sie?

Unsere Forschung konzentriert sich darauf, zu verstehen, wie unsere Gene und epigenetische Mechanismen die Gehirnfunktion beeinflussen – und was geschieht, wenn Krankheiten Prozesse im Nervensystem stören. Das Nervensystem ist unglaublich komplex: Neuronen nutzen genetische Informationen auf hochspezialisierte Weise. Mein Team und ich erforschen, wie diese Komplexität zu einer präzisen Funktionsweise führt, anstatt im Chaos zu enden. Während in den meisten Fällen eine enorme Vielfalt an molekularen Wechselwirkungen eigentlich zu Unordnung führen müsste, sorgt sie in Neuronen für eine erstaunlich funktionale Präzision. Genau dieser Aspekt steht im Mittelpunkt unserer Forschung, mit einem besonderen Fokus auf RNA-Mechanismen. Wir untersuchen, wie verschiedene RNAs entstehen, wie sie mit Proteinen interagieren und wie sie sich innerhalb von Neuronen bewegen. Anders als viele Studien, die sich auf spezifische Krankheiten konzentrieren, verfolgen wir einen breiteren Ansatz, indem wir grundlegende Mechanismen des Nervensystems verstehen wollen, die später bei der Bekämpfung verschiedener neurologischer Erkrankungen helfen könnten.

Können Sie Ihr Team beschreiben und was Ihnen bei der Leitung eines Teams von vorwiegend jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern besonders wichtig ist?

Mein Team ist momentan eher unkonventionell, da alle unsere Projekte von Doktorandinnen und Doktoranden geleitet werden. Zusätzlich habe ich eine Labormanagerin und einen technischen Assistenten, die die Projekte unterstützen. Ich habe aber keine Postdocs, die üblicherweise Projekte leiten. Das bedeutet, dass die gesamte Expertise bei den Doktoranden liegt – sie übernehmen also bei mir viel Verantwortung. Ohne diese zusätzliche Postdoc-Ebene tragen sie eine größere intellektuelle Last, aber gleichzeitig bietet sich ihnen auch die Chance, daran zu wachsen. Daher betreue ich die Doktorandinnen und Doktoranden insbesondere zu Beginn relativ eng. Mit der Zeit treffen sie mehr und mehr Entscheidungen selbstständig. Dieses Konzept werde ich auch beibehalten, wenn künftig Postdocs hinzukommen. Es eignet sich besonders für talentierte Nachwuchsforschende, die bereit sind, Verantwortung für ein Projekt zu übernehmen und intensiv über darüber nachdenken wollen. So werden Doktoranden auch zu Erstautoren: Sie leiten ihr eigenes Projekt, gestalten Experimente mit, führen die meisten auch selbst durch und koordinieren das Projekt innerhalb des Teams. Viele Menschen tragen zum Projekt bei, aber der leitende Doktorand oder die leitende Doktorandin sollte sicherstellen, dass alles auf Kurs bleibt. Wenn sich dann am Ende alles zusammenfügt, ist das unglaublich belohnend.

Gibt es wichtige Lektionen aus Ihrer eigenen Promotionszeit, die Sie heute an Ihr Team weitergeben?

Eine Sache ist mir besonders wichtig: den Studierenden klarzumachen, dass es völlig okay ist, Fehler zu machen. Wir alle machen sie. Tatsächlich halte ich mich selbst für eine Meisterin der Missgeschicke und unterhalte mein Labor gerne mit Geschichten über meine eigenen, kleinen Katastrophen. Zum Beispiel habe ich mich einmal geschnitten und versehentlich radioaktives Material über die Wunde verschüttet. Ich habe mich einmal – nein, sogar zweimal – in Brand gesetzt. Oh, und einmal das Labor. Zum Glück nur einmal. Oder die Geschichte, als ich eine Flasche Phenol fallen gelassen habe und das ganze Gebäude evakuiert werden musste. Die Liste ist lang. Ich erzähle diese Geschichten, damit mein Team weiß, dass sie zu mir kommen können, wenn sie Fehler machen. Man muss nicht stolz auf seine Fehler sein, aber man muss sie anerkennen, korrigieren und idealerweise aus ihnen lernen.

Was hat Sie dazu inspiriert, Wissenschaftlerin zu werden? War das immer klar für Sie?

Ich bin nicht eine dieser Personen, die schon von klein auf eine Leidenschaft für Wissenschaft hatte. In der Schule war ich in vielen Fächern gut und hatte vielseitige Interessen. Meine Entscheidung für die Wissenschaft war letztlich ziemlich pragmatisch. Weil ich mich für so vieles begeistern konnte, habe ich überlegte, welche meiner Interessen ich als Hobby weiterverfolgen könnte und für welche ich eine professionelle Umgebung brauchte. Ich erkannte, dass ich immer Sport treiben oder Bücher über Philosophie und Literatur lesen konnte. Aber Wissenschaft lässt sich nicht einfach als Hobby betreiben. Ich könnte mir nicht einfach ein Labor zu Hause einrichten und Experimente durchführen. Also entschied ich mich für ein Studium, das mir Zugang zu etwas Einzigartigem verschaffte – etwas, das ich außerhalb eines professionellen Umfelds nicht machen konnte. So kam ich zur Biologie. Ich habe auch über Physik und Mathematik nachgedacht, aber mich hat eher interessiert, wie Zellen funktionieren.

Sie haben Ihre Kinder während der Postdoc-Phase bekommen. Ist das eine gute Zeit, um Kinder zu bekommen?

Der Zeitpunkt ist nie perfekt. Aber während meiner Postdoc-Zeit Kinder zu bekommen, war eine furchtbare Idee. Trotzdem hat es irgendwie funktioniert … auch wenn es fast schiefgegangen wäre. (lacht) Bei völliger Entscheidungsfreiheit – ohne Sorgen und all die „Was-wäre-wenns“ –, hätte ich wahrscheinlich gewartet, bis ich meine eigene Forschungsgruppe leite, bevor ich Kinder bekomme. Aber für eine Frau in der Wissenschaft ist das eine unglaublich schwierige Entscheidung. Es gab einige Faktoren, die mir geholfen haben – Dinge, über die ich mir damals gar keine Gedanken gemacht hatte. Zum Beispiel war es ein großer Vorteil, dass ich meinen Postdoc in den USA gemacht habe. Mir war nicht bewusst, wie schwierig es sein würde, experimentelle Arbeit während der Schwangerschaft oder Stillzeit fortzusetzen. Hätte ich meinen Postdoc in Deutschland absolviert, wäre es das für meine Laborarbeit gewesen. In den USA liegt diese Entscheidung, ob man, natürlich nur unter sicheren Bedingungen, weiterarbeiten möchte, bei einem selbst. Diese Flexibilität war für mich entscheidend. Auf der anderen Seite sind die Kosten für Kinderbetreuung in den USA extrem, besonders in teuren Städten wie Boston oder San Francisco. Glücklicherweise hatte ich ein europäisches Stipendium, das mir eine dreimonatige, voll bezahlte Elternzeit ermöglichte. Das war enorm wichtig. Außerdem half mir die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), indem sie es mir ermöglicht hat, mein Elterngeld in eine Finanzierung umzuwandeln, die einen Großteil der Kinderbetreuungskosten abdeckte. Diese Unterstützung machte einen entscheidenden Unterschied. Am Ende hat es nicht nur wegen guter Planung funktioniert, sondern auch, weil ich zufällig in einer Situation war, in der diese Ressourcen für mich verfügbar waren.

Sie laden Mädchen aus Schulen in Ihr Labor ein. Warum ist Ihnen das wichtig?

Ich glaube, dass Mädchen generell weniger Chancen haben oder weniger ermutigt werden, eine Karriere in den MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) einzuschlagen. Das beginnt schon im Kindergarten: Jungs bekommen Bauklötze, während Mädchen Puppen oder Kuscheltiere bekommen. Oft geschieht das nicht bewusst, aber es passiert – und diese frühen Einflüsse lassen sich später nur schwer rückgängig machen. Diese Dynamik erlebe ich sogar bei meinen eigenen Töchtern. Es braucht mehr  Maßnahmen, diese Stereotypen zu durchbrechen. Indem ich gezielt Möglichkeiten für Mädchen im Labor schaffe oder sie manchmal sogar bevorzuge, versuche ich, diesen gesellschaftlichen Ungleichheiten zumindest ein kleines bisschen entgegenzuwirken.

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